Wir stehen im tropischen Regenwald im Norden von Martinique. Die Blätter hoch über uns wispern im Wind. Vogelschreie und das Summen von Insekten erfüllen die Schwüle der Luft. Und die Stimme von Gilles Vicrobeck, unserem Guide, der mit dunklem Timbre einen Singsang angestimmt hat, mit dem er uns die Legende von der Entstehung der Inseln der Kleinen Antillen vorträgt. Auf Englisch, gefärbt von seinem starken französischen Akzent, lässt er vor unserem geistigen Auge das Bild von einem mächtigen Gott entstehen, der vor Urzeiten existierte und dessen Tochter in einer verhängnisvollen Liebe zu einer Anaconda verstrickt war. Ganz gleich, wie er ihr gegenüber auch argumentierte und gar drohte, er vermochte es einfach nicht, die Liebenden auseinander zu bringen. Schließlich, außer sich vor Zorn, hieb er die Riesenschlange mit seiner Machete in tausend Stücke und schleuderte sie ins Meer. So liegt sie heute noch da, die Anaconda, versteinert zu einer Perlenkette von Inseln, sichelförmig angeordnet zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Karibischen Meer.
Glück hat auf Martinique viele Gesichter, eins davon ist die strotzend grüne, reiche Natur dieser Insel. Während wir unsere Wanderung zum Wasserfall Cascade Couleuvre fortsetzen, macht uns Gilles immer wieder auf Besonderheiten aufmerksam – zum Beispiel eine dunkle Erhebung an einer Palme, nahezu so groß wie ein Hühnerei: „Das ist die berühmte und für den Menschen harmlose heimische Baumvogelspinne mit ihrer bunt schimmernden Färbung“, erklärt der Guide. Mehr als 3.000 Pflanzenspezies kann Martinique aufweisen – Paradiesvogelblumen, Strelitzien und roter Ingwer wachsen hier, aber auch exotische Früchte wie Mangos, Papayas, Soursops oder Guaven. Im botanischen Garten Jardin de Balata im Nordwesten der Insel ist eine beeindruckende Sammlung von Orchideen, Palmen, Farnen und tropischen Gewächsen zu bewundern.
Ein Muss für Blumenliebhaber ist die Habitation Clément, eine ehemalige Rumdestillerie, heute ein Kulturzentrum. In ihren Gärten schwirren winzige Blaukopfkolibris herum, deren Flügel so schnell rotieren, dass das menschliche Auge es beinahe nicht erfassen kann. Auf Martinique gibt es Black Birds und Bananaquits, riesige Fregattvögel und Pelikane, Geckos und Leguane, aber auch Vogelspinnen und Herkuleskäfer, die größten Insekten der Welt, zu entdecken. Leider gibt es hier auch die einzige für Menschen gefährliche Giftschlange der Karibik: die Martinique-Lanzenotter. „Wir haben allerdings extrem selten Bissunfälle zu verzeichnen“, erklärt Gilles. Und dank eines Gegengifts komme es fast nie zu schweren Unfällen.
Gilles Vicrobeck ist nicht nur Guide, sondern auch Präsident des Comité de randonnée pédestre, einem Komitee, das jedes Jahr im Juli ein großes Wanderfestival organisiert. Fast jede Woche begleitet er die herausfordernde, rund fünfstündige Wanderung zum höchsten und noch immer aktiven Vulkan auf Martinique: dem Mont Pelée mit einer Höhe von etwa 1.400 Metern. Im Jahr 1902 kam es zur Katastrophe: Beim verheerenden Ausbruch des Mont Pelée wurde die damalige Hauptstadt Saint-Pierre, bekannt als „Klein Paris“, in Asche gelegt. Mehr als 30.000 Menschen fanden den Tod. Die dramatische Geschichte können Besucher im Vulkan-Museum Franck Perret nacherleben. Einer der wenigen Überlebenden war damals ein Häftling namens Louis-Auguste Cyparis. Dieser blieb im Schutz der gewaltigen Mauern seiner Gefängniszelle vom tödlichen Ascheregen verschont. Noch heute kann man die Überreste seiner Zelle gleich neben den Spuren des alten Theaters in Saint-Pierre finden.
Nicht weit von Anse Couleuvre entfernt befindet sich die Habitation Anse Céron, nördlich von Le Prêcheur gelegen, einer der ältesten Städte von Martinique. Von der ehemaligen Zuckerrohrfabrik stehen nur noch Ruinen. Früher einmal wurden auf dieser Plantage Zuckerrohr und Manioc, Kaffee und Kakao, Avocados und Bananen angebaut, natürlich alles mit Hilfe von Hunderten von Sklaven. In der Kolonialzeit hieß die Straße Rue Cases-Nègres. Nach dem Ende der Sklaverei Mitte des 19. Jahrhunderts verfiel die Fabrik. Nach und nach überwucherte die tropische Vegetation die Überreste der Gebäude. Neben der Fabrikruine und der Wassermühle existiert noch der Kanal, einst gebaut für den abfließenden Zuckerrohrsaft. Zwei große Teiche versorgten das Herrenhaus mit Wasser, heute tummeln sich hier Flusskrebse. Stiller und beeindruckender Zeitzeuge ist der gigantische, 300 Jahre alte Zamana-Baum, dessen gewaltige Äste sich über den grünen Boden strecken und vermutlich unendlich vielen Lebewesen Schutz und Nahrung bieten.
Hier, in diesem Garten Eden, hat sich Gründerin Laurence Marraud des Grottes einen Lebenstraum erfüllt, den ihre Tochter Julie fortführt. Die Habitation Anse Céron ist heute ein verwunschener Ort für nachhaltigen Tourismus mit einem Hofladen, in dem lokale Produkte angeboten werden wie Konfitüren, Chutneys, Käse und die hauseigene Chocolat Céron sowie Bar, Restaurant und einigen Zimmern für Übernachtungen. Das Restaurant mitten im Regenwald bietet eine Gourmetküche mit lokalen Produkten in Bioqualität, ausschließlich auf dem fruchtbaren Vulkanboden der Insel gewachsen und teils aus eigener Ernte. Serviert werden die Köstlichkeiten unter einem Carbet, einem traditionellen Holzdach, das Schatten bietet und mangels Wänden den freien Blick in den tropischen Park gewährt. Küchenchef Hugo Thierry, der in Montpellier und London gearbeitet hat, kreiert seine kreolisch inspirierten Menüs mit bis zu acht Gängen mit saisonalen Produkten von der Plantage und von lokalen Fischern und Märkten – allesamt ein Erlebnis für alle Sinne.
Seit dem 19. März 1946 ist Martinique französisches Überseedépartement, gehört also zur Europäischen Union. Wie so oft in der Karibik waren die Jahrhunderte zuvor geprägt von einer wechselhaften Geschichte. Nach der Entdeckung der Insel durch Christoph Kolumbus blieb Martinique zunächst unbeachtet, zu aggressiv verteidigten die kriegerischen Karib-Indianer, die schon die Arawak-Indianer zuvor vertrieben hatten, das Eiland. Erst 1624, gut 100 Jahre später, als es französische Schiffbrüchige auf die Insel verschlug und sie nach ihrer Rettung von ihr berichteten, erwachte das Interesse.
Im September 1635 schließlich begann die Eroberung Martiniques. Das Fort Saint-Pierre wurde gegründet und die Kariben mussten sich mit den Europäern arrangieren. Mit Hilfe von afrikanischen Sklaven wuchsen die Zuckerrohrplantagen und warfen hohe Gewinne ab. Es dauerte noch ein Vierteljahrhundert bis die Karib-Indianer gänzlich vertrieben worden waren. Von dem Reichtum Martiniques wollten auch andere profitieren – immer wieder versuchten Niederländer und Engländer, die Insel zu erobern, zeitweise erfolgreich. Mit der Abschaffung der Sklaverei am 22. Mai 1848 änderte sich alles: Plötzlich wurden 72.000 Sklaven zu freien französischen Bürgern, dadurch fehlten den Plantagenbesitzern nun die billigen Arbeitskräfte. Zum Ausgleich wurden Arbeiter aus Indien angeworben. In den Folgejahren jedoch wurde der europäische Rübenzucker zur Konkurrenz, der Preis für den Rohrzucker fiel immens. Viele Plantagenbesitzer mussten aufgeben.
Heute machen die Nachkommen der ehemaligen Sklaven den Löwenanteil der Einwohner Martiniques aus. Zahlreiche Skulpturen auf der Insel erinnern an das dunkle Kapitel der Sklaverei; besonders anschaulich wird das Thema im Freilichtmuseum Savanne des Esclaves vermittelt. „Ursprünglich wollte ich auf meinem Land Bananen anpflanzen, das Hauptexportgut Martiniques“, berichtet Gilbert Larose. Doch dann schuf er über Jahre hinweg in Erinnerung an seine Urgroßeltern auf dem Gelände in Les Trois Îlets ein Open Air Museum, das die Lebensbedingungen der Sklaven greifbar macht. Er und seine neun Geschwister wuchsen ebenfalls in derart beengten Strohhütten auf, wie sie dort aufgebaut wurden. Ausgestellt werden in seinem Museum auch Uniformen, die die soziale Hierarchie unter den Sklaven widerspiegeln. Kunstvolle Holzschnitzereien und Filmsequenzen zeigen Szenen aus dem harten Alltag der Sklaven, die der Willkür ihrer weißen Herrschaften ausgesetzt waren. „Mehr als 60.000 Afrikaner wurden hier ausgebeutet“, sagt Gilbert Larose. Damit diese Epoche nicht in Vergessenheit gerät, hat er das grausame Thema zusätzlich kindgerecht in einem Comic aufbereitet, denn: „Ich selbst habe im Alter von 15 Jahren die Schule verlassen, ohne etwas über die Zeit der Sklaverei erfahren zu haben.“
„Cap 110 – Erinnerung und Brüderlichkeit“ heißt das Mahnmal, das 1998 in Anse Caffard auf Initiative der Stadt Le Diamant errichtet wurde. Anlass war der 150. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei. Hintergrund: Im April 1830 verunglückte ein Handelsschiff mit afrikanischen Gefangenen auf den Felsen von Anse Caffard und wurde dabei vollständig zerstört. 26 Männer und 60 Frauen konnten gerettet werden. Am nächsten Tag wurden 46 Leichen gefunden. Von der Besatzung hatte niemand überlebt und es gab keine Dokumente, daher ist die Identität des Schiffes bis heute unbekannt. Dieses Ereignis war der letzte Schiffbruch eines Sklavenschiffes in der Geschichte Martiniques. Die skulpturale Installation des Künstlers Laurent Valère steht gegenüber vom Diamantfelsen, drei Kilometer nördlich von der Stadt Le Diamant im Süden der Insel. Die monumentale Statuengruppe erinnert an die zahlreichen Opfer der Sklaverei. Dabei symbolisiert die dreieckige Anordnung die Triangel des Sklavenhandels zwischen Europa, Afrika und Amerika.
Rum gehört zur Karibik wie Palmen, Sand und Meeresrauschen. Dabei war die Spirituose zunächst ein Abfallprodukt, das bei der Herstellung von Zucker anfiel. Zucker, das „weiße Gold“, war lange profitabler als die Rumbrennerei. Während überall auf der Welt Rum aus der Melasse hergestellt wird, ist es beim „Rhum Agricole“ auf den französischen Karibikinseln der Saft des Zuckerrohrs, der die Grundlage des Rums darstellt. Das Besondere: „Es werden keine Aromen und Geschmacksstoffe zugesetzt“, betont Ralph Couteperoumal von der Destillerie Trois Rivières im Süden der Insel. Bei einer Rumverkostung können Besucher den feinen Unterschied kennenlernen. „Der Geschmack von Rhum Agricole ist frisch, blumig und grasig, mit einer gewissen Würze und einem Hauch von Terroir, beeinflusst von der Umgebung, dem Klima und dem Boden“, erläutert der Experte.
Der Rum von Trois Rivières wird aus frischem Zuckerrohrsaft hergestellt und darf nur in Fässern aus Frankreich und den USA reifen. Zur Sklavenzeit gab es auf Martinique rund 700 Destillen, heute sind es noch 14 Rhum-Agricole-Destillerien, darunter berühmte Marken wie Rhum Clément, Rhum JM und Rhum Neisson. Die meisten bieten Führungen und Verkostungen an.
Fort-de-France, die Hauptstadt Martiniques ist mit ihren rund 75.000 Einwohnern eine der größten Städte der Kleinen Antillen. Sie ist keine Schönheit, hat aber nostalgisches Flair. Sehenswert sind die Kathedrale Saint-Louis und die Bibliothek Schoelcher aus dem 19. Jahrhundert. Beim Bummeln findet man zahlreiche Streetart-Kunstwerke. Gegenüber vom Fort liegt der Zentralplatz mit einer Statue von Joséphine de Beauharnais, der ersten Frau von Napoleon Bonaparte. Die Tochter einer wohlhabenden Familie von Plantagenbesitzern wurde viele Jahre auf Martinique sehr verehrt. Als jedoch 175 Jahre nach ihrem Tod offenbar wurde, dass sie nicht auf ihre Sklaven hatte verzichten wollen und darum ihren Gemahl drängte, die Sklaverei acht Jahre nach deren Abschaffung wieder einzuführen, wandte sich die Stimmung gegen sie. An einem Morgen im Jahr 1990 entdeckte man, dass die Statue geköpft und mit roter Farbe bespritzt wurde. Bis heute ist unbekannt, wer hinter dieser Tat stand. Es wurde aber auch nie nachgeforscht. Eine Restauration stand offenbar nie zur Debatte. Ihr Geburtshaus in Les Trois-Îlets beherbergt ein kleines Museum, La Pagerie, das an Joséphine erinnert.
Die Küstenstadt Les Trois-Îlets gehört mit den Orten Anse Mitan, Sainte-Anne und Le Marin zu den beliebtesten Touristenorten der Insel. Ein weiteres Highlight im Süden ist die Stadt Le Diamant, die bekannt ist für ihre atemberaubende Küste und den Felsen Le Rocher du Diamant, einem erloschenen Vulkan der ikonisch aus dem Meer ragt. Martinique ist berühmt für die zahlreichen Strände, deren Farbpalette sich von schneeweiß über goldgelb bis hin zu schwarzem Sand auffächert. Der schönste und längste ist Grande Anse des Salines bei Sainte Anne mit goldgelbem, feinem Sand, gesäumt von Kokospalmen und Mandelbäumen. „Einer meiner Lieblingsstrände ist aber Anse Noir, der ist zwar nicht so leicht zu erreichen, aber sein pechschwarzer Lavasand ist sehr ungewöhnlich", sagt Guide Magdalena Miklovicova, die seit Jahren auf Martinique lebt.
Die Küste im Süden bietet viele Möglichkeiten für Wassersportaktivitäten – wie Tauchen und Schnorcheln. Die paradiesische Unterwasserwelt zeichnet sich aus durch fischreiche Korallenriffe. Leider gibt es auch hier Rotfeuerfische, die aus dem Roten Meer stammen und sich als Bioinvasoren überall in der Karibik ausgebreitet haben. Sie sehen zwar beeindruckend aus, stellen aber eine Gefahr für die einheimischen Meerestiere dar.
Die Ostküste Martiniques ist rauer, zerklüftete Küstenabschnitte charakterisieren sie. Die Halbinsel Presqu'ile de la Caravelle reicht zwölf Kilometer in den ruppigen Atlantik; sie ist ein beliebtes Ziel für Wanderer und Surfer. Die kleine Bucht bei Le Lorrain, nahe Basse-Pointe, gehört zu den beliebtesten Surfspots der Insel. Nicht entgehen lassen sollte man sich auch das Naturschutzgebiet mit den Ruinen des Schlosses Château Dubuc, das an den Dreieckshandel mit Sklaven und Waren erinnert, sowie den mehr als 160 Meter über dem Meeresspiegel stehenden und damit höchsten Leuchtturm Frankreichs.
Als französisches Überseedépartement ist Martinique auch in kulinarischer Hinsicht ein Juwel. Die Cuisine ist geprägt von der französischen, der afrikanischen und der indischen Kultur und schöpft aus dem Füllhorn der Tropeninsel, auf der einfach alles wächst. Exotische Früchte und Gemüsesorten kombiniert mit Meeresfrüchten oder Fleisch und aus Asien stammenden Gewürzen bieten Geschmacksexplosionen.
In Le Carbet im Norden Martiniques betreibt Guy Ferdinand, der für seine Hot Pants berühmt geworden ist, sein Strand-Lokal Petitbonum. Gleich nebenan an dem kilometerlangen Strand liegen die Flamingo Bar oder das Le Wahoo, um nur einige aufzuzählen. Auf gemütlichen Liegen warten die Gäste auf den Sonnenuntergang, während es aus der Küche verführerisch duftet und die Katzen geduldig dösend darauf warten, dass sie ihren Anteil erhalten.
Guy, der in seinen engen Shorts am Grill seiner Outdoorküche steht, flambiert riesige Flusskrebse mit Rum, dass die Funken sprühen. „Das mache ich nicht, um euch zu beeindrucken, sondern um die Aromen zu wecken“, ruft er uns zu, während er das Ganze auch schon mit Vanille, Kokos und Milch ablöscht. Wenig später stehen Teller mit Thunfisch-Sashimi, gegrillter Languste mit der typischen Sauce Chienne und Flusskrebsen in Sauce Vanille vor uns, dazu wird Rum gereicht: „Wir bieten hier keine anderen Drinks an“, erklärt Gilles, der die Getränke serviert, und weist mit einer Handbewegung auf die beeindruckende Vielfalt im Regal. Und während wir unseren Gaumen kitzeln und den Sonnenuntergang betrachten, durchdringt uns die Gewissheit: Wir sind im Paradies angekommen!
Autorin: Bettina Bormann
© Fotos: Bettina Bormann, pixabay.com (Joelle Ortet, Claire ANSART, Roberto Minini, falco, epartocle, jlxp, Rozd'Amour), unsplash.com (Teddy Charti)
Wir stehen im tropischen Regenwald im Norden von Martinique. Die Blätter hoch über uns wispern im Wind. Vogelschreie und das Summen von Insekten erfüllen die Schwüle der Luft. Und die Stimme von Gilles Vicrobeck, unserem Guide, der mit dunklem Timbre einen Singsang angestimmt hat, mit dem er uns die Legende von der Entstehung der Inseln der Kleinen Antillen vorträgt. Auf Englisch, gefärbt von seinem starken französischen Akzent, lässt er vor unserem geistigen Auge das Bild von einem mächtigen Gott entstehen, der vor Urzeiten existierte und dessen Tochter in einer verhängnisvollen Liebe zu einer Anaconda verstrickt war. Ganz gleich, wie er ihr gegenüber auch argumentierte und gar drohte, er vermochte es einfach nicht, die Liebenden auseinander zu bringen. Schließlich, außer sich vor Zorn, hieb er die Riesenschlange mit seiner Machete in tausend Stücke und schleuderte sie ins Meer. So liegt sie heute noch da, die Anaconda, versteinert zu einer Perlenkette von Inseln, sichelförmig angeordnet zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Karibischen Meer.
Glück hat auf Martinique viele Gesichter, eins davon ist die strotzend grüne, reiche Natur dieser Insel. Während wir unsere Wanderung zum Wasserfall Cascade Couleuvre fortsetzen, macht uns Gilles immer wieder auf Besonderheiten aufmerksam – zum Beispiel eine dunkle Erhebung an einer Palme, nahezu so groß wie ein Hühnerei: „Das ist die berühmte und für den Menschen harmlose heimische Baumvogelspinne mit ihrer bunt schimmernden Färbung“, erklärt der Guide. Mehr als 3.000 Pflanzenspezies kann Martinique aufweisen – Paradiesvogelblumen, Strelitzien und roter Ingwer wachsen hier, aber auch exotische Früchte wie Mangos, Papayas, Soursops oder Guaven. Im botanischen Garten Jardin de Balata im Nordwesten der Insel ist eine beeindruckende Sammlung von Orchideen, Palmen, Farnen und tropischen Gewächsen zu bewundern.
Ein Muss für Blumenliebhaber ist die Habitation Clément, eine ehemalige Rumdestillerie, heute ein Kulturzentrum. In ihren Gärten schwirren winzige Blaukopfkolibris herum, deren Flügel so schnell rotieren, dass das menschliche Auge es beinahe nicht erfassen kann. Auf Martinique gibt es Black Birds und Bananaquits, riesige Fregattvögel und Pelikane, Geckos und Leguane, aber auch Vogelspinnen und Herkuleskäfer, die größten Insekten der Welt, zu entdecken. Leider gibt es hier auch die einzige für Menschen gefährliche Giftschlange der Karibik: die Martinique-Lanzenotter. „Wir haben allerdings extrem selten Bissunfälle zu verzeichnen“, erklärt Gilles. Und dank eines Gegengifts komme es fast nie zu schweren Unfällen.
Gilles Vicrobeck ist nicht nur Guide, sondern auch Präsident des Comité de randonnée pédestre, einem Komitee, das jedes Jahr im Juli ein großes Wanderfestival organisiert. Fast jede Woche begleitet er die herausfordernde, rund fünfstündige Wanderung zum höchsten und noch immer aktiven Vulkan auf Martinique: dem Mont Pelée mit einer Höhe von etwa 1.400 Metern. Im Jahr 1902 kam es zur Katastrophe: Beim verheerenden Ausbruch des Mont Pelée wurde die damalige Hauptstadt Saint-Pierre, bekannt als „Klein Paris“, in Asche gelegt. Mehr als 30.000 Menschen fanden den Tod. Die dramatische Geschichte können Besucher im Vulkan-Museum Franck Perret nacherleben. Einer der wenigen Überlebenden war damals ein Häftling namens Louis-Auguste Cyparis. Dieser blieb im Schutz der gewaltigen Mauern seiner Gefängniszelle vom tödlichen Ascheregen verschont. Noch heute kann man die Überreste seiner Zelle gleich neben den Spuren des alten Theaters in Saint-Pierre finden.
Nicht weit von Anse Couleuvre entfernt befindet sich die Habitation Anse Céron, nördlich von Le Prêcheur gelegen, einer der ältesten Städte von Martinique. Von der ehemaligen Zuckerrohrfabrik stehen nur noch Ruinen. Früher einmal wurden auf dieser Plantage Zuckerrohr und Manioc, Kaffee und Kakao, Avocados und Bananen angebaut, natürlich alles mit Hilfe von Hunderten von Sklaven. In der Kolonialzeit hieß die Straße Rue Cases-Nègres. Nach dem Ende der Sklaverei Mitte des 19. Jahrhunderts verfiel die Fabrik. Nach und nach überwucherte die tropische Vegetation die Überreste der Gebäude. Neben der Fabrikruine und der Wassermühle existiert noch der Kanal, einst gebaut für den abfließenden Zuckerrohrsaft. Zwei große Teiche versorgten das Herrenhaus mit Wasser, heute tummeln sich hier Flusskrebse. Stiller und beeindruckender Zeitzeuge ist der gigantische, 300 Jahre alte Zamana-Baum, dessen gewaltige Äste sich über den grünen Boden strecken und vermutlich unendlich vielen Lebewesen Schutz und Nahrung bieten.
Hier, in diesem Garten Eden, hat sich Gründerin Laurence Marraud des Grottes einen Lebenstraum erfüllt, den ihre Tochter Julie fortführt. Die Habitation Anse Céron ist heute ein verwunschener Ort für nachhaltigen Tourismus mit einem Hofladen, in dem lokale Produkte angeboten werden wie Konfitüren, Chutneys, Käse und die hauseigene Chocolat Céron sowie Bar, Restaurant und einigen Zimmern für Übernachtungen. Das Restaurant mitten im Regenwald bietet eine Gourmetküche mit lokalen Produkten in Bioqualität, ausschließlich auf dem fruchtbaren Vulkanboden der Insel gewachsen und teils aus eigener Ernte. Serviert werden die Köstlichkeiten unter einem Carbet, einem traditionellen Holzdach, das Schatten bietet und mangels Wänden den freien Blick in den tropischen Park gewährt. Küchenchef Hugo Thierry, der in Montpellier und London gearbeitet hat, kreiert seine kreolisch inspirierten Menüs mit bis zu acht Gängen mit saisonalen Produkten von der Plantage und von lokalen Fischern und Märkten – allesamt ein Erlebnis für alle Sinne.
Seit dem 19. März 1946 ist Martinique französisches Überseedépartement, gehört also zur Europäischen Union. Wie so oft in der Karibik waren die Jahrhunderte zuvor geprägt von einer wechselhaften Geschichte. Nach der Entdeckung der Insel durch Christoph Kolumbus blieb Martinique zunächst unbeachtet, zu aggressiv verteidigten die kriegerischen Karib-Indianer, die schon die Arawak-Indianer zuvor vertrieben hatten, das Eiland. Erst 1624, gut 100 Jahre später, als es französische Schiffbrüchige auf die Insel verschlug und sie nach ihrer Rettung von ihr berichteten, erwachte das Interesse.
Im September 1635 schließlich begann die Eroberung Martiniques. Das Fort Saint-Pierre wurde gegründet und die Kariben mussten sich mit den Europäern arrangieren. Mit Hilfe von afrikanischen Sklaven wuchsen die Zuckerrohrplantagen und warfen hohe Gewinne ab. Es dauerte noch ein Vierteljahrhundert bis die Karib-Indianer gänzlich vertrieben worden waren. Von dem Reichtum Martiniques wollten auch andere profitieren – immer wieder versuchten Niederländer und Engländer, die Insel zu erobern, zeitweise erfolgreich. Mit der Abschaffung der Sklaverei am 22. Mai 1848 änderte sich alles: Plötzlich wurden 72.000 Sklaven zu freien französischen Bürgern, dadurch fehlten den Plantagenbesitzern nun die billigen Arbeitskräfte. Zum Ausgleich wurden Arbeiter aus Indien angeworben. In den Folgejahren jedoch wurde der europäische Rübenzucker zur Konkurrenz, der Preis für den Rohrzucker fiel immens. Viele Plantagenbesitzer mussten aufgeben.
Heute machen die Nachkommen der ehemaligen Sklaven den Löwenanteil der Einwohner Martiniques aus. Zahlreiche Skulpturen auf der Insel erinnern an das dunkle Kapitel der Sklaverei; besonders anschaulich wird das Thema im Freilichtmuseum Savanne des Esclaves vermittelt. „Ursprünglich wollte ich auf meinem Land Bananen anpflanzen, das Hauptexportgut Martiniques“, berichtet Gilbert Larose. Doch dann schuf er über Jahre hinweg in Erinnerung an seine Urgroßeltern auf dem Gelände in Les Trois Îlets ein Open Air Museum, das die Lebensbedingungen der Sklaven greifbar macht. Er und seine neun Geschwister wuchsen ebenfalls in derart beengten Strohhütten auf, wie sie dort aufgebaut wurden. Ausgestellt werden in seinem Museum auch Uniformen, die die soziale Hierarchie unter den Sklaven widerspiegeln. Kunstvolle Holzschnitzereien und Filmsequenzen zeigen Szenen aus dem harten Alltag der Sklaven, die der Willkür ihrer weißen Herrschaften ausgesetzt waren. „Mehr als 60.000 Afrikaner wurden hier ausgebeutet“, sagt Gilbert Larose. Damit diese Epoche nicht in Vergessenheit gerät, hat er das grausame Thema zusätzlich kindgerecht in einem Comic aufbereitet, denn: „Ich selbst habe im Alter von 15 Jahren die Schule verlassen, ohne etwas über die Zeit der Sklaverei erfahren zu haben.“
„Cap 110 – Erinnerung und Brüderlichkeit“ heißt das Mahnmal, das 1998 in Anse Caffard auf Initiative der Stadt Le Diamant errichtet wurde. Anlass war der 150. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei. Hintergrund: Im April 1830 verunglückte ein Handelsschiff mit afrikanischen Gefangenen auf den Felsen von Anse Caffard und wurde dabei vollständig zerstört. 26 Männer und 60 Frauen konnten gerettet werden. Am nächsten Tag wurden 46 Leichen gefunden. Von der Besatzung hatte niemand überlebt und es gab keine Dokumente, daher ist die Identität des Schiffes bis heute unbekannt. Dieses Ereignis war der letzte Schiffbruch eines Sklavenschiffes in der Geschichte Martiniques. Die skulpturale Installation des Künstlers Laurent Valère steht gegenüber vom Diamantfelsen, drei Kilometer nördlich von der Stadt Le Diamant im Süden der Insel. Die monumentale Statuengruppe erinnert an die zahlreichen Opfer der Sklaverei. Dabei symbolisiert die dreieckige Anordnung die Triangel des Sklavenhandels zwischen Europa, Afrika und Amerika.
Rum gehört zur Karibik wie Palmen, Sand und Meeresrauschen. Dabei war die Spirituose zunächst ein Abfallprodukt, das bei der Herstellung von Zucker anfiel. Zucker, das „weiße Gold“, war lange profitabler als die Rumbrennerei. Während überall auf der Welt Rum aus der Melasse hergestellt wird, ist es beim „Rhum Agricole“ auf den französischen Karibikinseln der Saft des Zuckerrohrs, der die Grundlage des Rums darstellt. Das Besondere: „Es werden keine Aromen und Geschmacksstoffe zugesetzt“, betont Ralph Couteperoumal von der Destillerie Trois Rivières im Süden der Insel. Bei einer Rumverkostung können Besucher den feinen Unterschied kennenlernen. „Der Geschmack von Rhum Agricole ist frisch, blumig und grasig, mit einer gewissen Würze und einem Hauch von Terroir, beeinflusst von der Umgebung, dem Klima und dem Boden“, erläutert der Experte.
Der Rum von Trois Rivières wird aus frischem Zuckerrohrsaft hergestellt und darf nur in Fässern aus Frankreich und den USA reifen. Zur Sklavenzeit gab es auf Martinique rund 700 Destillen, heute sind es noch 14 Rhum-Agricole-Destillerien, darunter berühmte Marken wie Rhum Clément, Rhum JM und Rhum Neisson. Die meisten bieten Führungen und Verkostungen an.
Fort-de-France, die Hauptstadt Martiniques ist mit ihren rund 75.000 Einwohnern eine der größten Städte der Kleinen Antillen. Sie ist keine Schönheit, hat aber nostalgisches Flair. Sehenswert sind die Kathedrale Saint-Louis und die Bibliothek Schoelcher aus dem 19. Jahrhundert. Beim Bummeln findet man zahlreiche Streetart-Kunstwerke. Gegenüber vom Fort liegt der Zentralplatz mit einer Statue von Joséphine de Beauharnais, der ersten Frau von Napoleon Bonaparte. Die Tochter einer wohlhabenden Familie von Plantagenbesitzern wurde viele Jahre auf Martinique sehr verehrt. Als jedoch 175 Jahre nach ihrem Tod offenbar wurde, dass sie nicht auf ihre Sklaven hatte verzichten wollen und darum ihren Gemahl drängte, die Sklaverei acht Jahre nach deren Abschaffung wieder einzuführen, wandte sich die Stimmung gegen sie. An einem Morgen im Jahr 1990 entdeckte man, dass die Statue geköpft und mit roter Farbe bespritzt wurde. Bis heute ist unbekannt, wer hinter dieser Tat stand. Es wurde aber auch nie nachgeforscht. Eine Restauration stand offenbar nie zur Debatte. Ihr Geburtshaus in Les Trois-Îlets beherbergt ein kleines Museum, La Pagerie, das an Joséphine erinnert.
Die Küstenstadt Les Trois-Îlets gehört mit den Orten Anse Mitan, Sainte-Anne und Le Marin zu den beliebtesten Touristenorten der Insel. Ein weiteres Highlight im Süden ist die Stadt Le Diamant, die bekannt ist für ihre atemberaubende Küste und den Felsen Le Rocher du Diamant, einem erloschenen Vulkan der ikonisch aus dem Meer ragt. Martinique ist berühmt für die zahlreichen Strände, deren Farbpalette sich von schneeweiß über goldgelb bis hin zu schwarzem Sand auffächert. Der schönste und längste ist Grande Anse des Salines bei Sainte Anne mit goldgelbem, feinem Sand, gesäumt von Kokospalmen und Mandelbäumen. „Einer meiner Lieblingsstrände ist aber Anse Noir, der ist zwar nicht so leicht zu erreichen, aber sein pechschwarzer Lavasand ist sehr ungewöhnlich", sagt Guide Magdalena Miklovicova, die seit Jahren auf Martinique lebt.
Die Küste im Süden bietet viele Möglichkeiten für Wassersportaktivitäten – wie Tauchen und Schnorcheln. Die paradiesische Unterwasserwelt zeichnet sich aus durch fischreiche Korallenriffe. Leider gibt es auch hier Rotfeuerfische, die aus dem Roten Meer stammen und sich als Bioinvasoren überall in der Karibik ausgebreitet haben. Sie sehen zwar beeindruckend aus, stellen aber eine Gefahr für die einheimischen Meerestiere dar.
Die Ostküste Martiniques ist rauer, zerklüftete Küstenabschnitte charakterisieren sie. Die Halbinsel Presqu'ile de la Caravelle reicht zwölf Kilometer in den ruppigen Atlantik; sie ist ein beliebtes Ziel für Wanderer und Surfer. Die kleine Bucht bei Le Lorrain, nahe Basse-Pointe, gehört zu den beliebtesten Surfspots der Insel. Nicht entgehen lassen sollte man sich auch das Naturschutzgebiet mit den Ruinen des Schlosses Château Dubuc, das an den Dreieckshandel mit Sklaven und Waren erinnert, sowie den mehr als 160 Meter über dem Meeresspiegel stehenden und damit höchsten Leuchtturm Frankreichs.
Als französisches Überseedépartement ist Martinique auch in kulinarischer Hinsicht ein Juwel. Die Cuisine ist geprägt von der französischen, der afrikanischen und der indischen Kultur und schöpft aus dem Füllhorn der Tropeninsel, auf der einfach alles wächst. Exotische Früchte und Gemüsesorten kombiniert mit Meeresfrüchten oder Fleisch und aus Asien stammenden Gewürzen bieten Geschmacksexplosionen.
In Le Carbet im Norden Martiniques betreibt Guy Ferdinand, der für seine Hot Pants berühmt geworden ist, sein Strand-Lokal Petitbonum. Gleich nebenan an dem kilometerlangen Strand liegen die Flamingo Bar oder das Le Wahoo, um nur einige aufzuzählen. Auf gemütlichen Liegen warten die Gäste auf den Sonnenuntergang, während es aus der Küche verführerisch duftet und die Katzen geduldig dösend darauf warten, dass sie ihren Anteil erhalten.
Guy, der in seinen engen Shorts am Grill seiner Outdoorküche steht, flambiert riesige Flusskrebse mit Rum, dass die Funken sprühen. „Das mache ich nicht, um euch zu beeindrucken, sondern um die Aromen zu wecken“, ruft er uns zu, während er das Ganze auch schon mit Vanille, Kokos und Milch ablöscht. Wenig später stehen Teller mit Thunfisch-Sashimi, gegrillter Languste mit der typischen Sauce Chienne und Flusskrebsen in Sauce Vanille vor uns, dazu wird Rum gereicht: „Wir bieten hier keine anderen Drinks an“, erklärt Gilles, der die Getränke serviert, und weist mit einer Handbewegung auf die beeindruckende Vielfalt im Regal. Und während wir unseren Gaumen kitzeln und den Sonnenuntergang betrachten, durchdringt uns die Gewissheit: Wir sind im Paradies angekommen!
Autorin: Bettina Bormann
© Fotos: Bettina Bormann, pixabay.com (Joelle Ortet, Claire ANSART, Roberto Minini, falco, epartocle, jlxp, Rozd'Amour), unsplash.com (Teddy Charti)
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